Der Schweizer Christoph Marthaler ist Regisseur des Stückes „Die Wehleider“, das in der aktuellen Spielzeit 2016/17 im Hamburger Schauspielhaus seine Uraufführung fand, am 2. Dezember 2016, um genau zu sein. Marthaler hat Musik studiert, kommt von der Musik, bevor er begann, erst in Basel und dann ab 1993 auch schon in Hamburg, am Deutschen Schauspielhaus, Theater zu inszenieren. Seitdem hat er hier regelmäßig Regie geführt. Marthaler verbindet gerne Sprechtheater mit Musik und so ist Musik auch wichtiger Bestandteil im Stück „Die Wehleider“.
Für „Die Wehleider“ wurde die Bühne des ehrwürdigen Deutschen Schauspielhauses in eine Turnhalle verwandelt, die sehr sachlich und etwas abgerockt wirkt und einen scharfen Kontrast zum sonstigen barocken Plüsch des Schauspielhauses bietet. Während die Zuschauer ihre nummerierten Plätze aufsuchen, wird auf der Bühne, in der Turnhalle also, schon sauber gemacht und aufgeräumt. Dann geht im Zuschauerraum das Licht aus und in der Rückwand der Turnhalle öffnen sich zwei Türen. Die Akteure des Stückes strömen herein, die Titelhelden, die Wehleider. Sie alle haben Decken umgehängt, so als ob sie gerade aus dem Mittelmeer gefischt worden wären, wie die Migranten, die jedes Jahr zu Zigtausenden von der Menschenschlepperindustrie an den nordafrikanischen Küsten oder in der Türkei rostigen Kähnen oder gar Schlauchbooten über das Mittelmeer Richtung Europa geschickt werden.
Nach dem Einzug werden die Akteure von einer die Halle umgebenden Empore von einer „Anstaltsleitern“ begrüßt, dargestellt von Irm Herrmann. Die einstige Faßbender-Schauspielerin liebt skurrile und schräge Filme und Rollen und hat unter anderem auch mit Herbert Achternbusch und Christoph Schlingensief gedreht. Auch in diesem Stück fühlt sie sich sichtbar wohl.
Die Zuschauer erfahren, dass die Gäste sich zu einem Seminar zwecks Abbau ihrer Ängste hier versammelt haben, in einem Ausweichquartier, das eigentlich für die Unterbringung von Flüchtlingen vorgesehen war, nun aber, da die Zahl der Flüchtlinge ständig zurück gehe, von einer Medizinischen Trägergesellschaft mit mehreren Geschäftsfeldern für diesen Zweck verwendet werde. Namen haben die Gäste keine, aber sie verkörpern verschiedene Typen und auch Nationen. Neben Deutsch wird vom internationalen Ensemble Französisch, Englisch und Spanisch gesprochen – es grüßt Europa, sogar die ganze „westliche Welt“ – Josef Ostendorf ist hergerichtet wie Donald Trump. Die Japanerin Sachiko Hara spielt passenderweise eine Japanerin und wird später kurz über den aktiveren Darm der Asiaten referieren. Die Gäste werden dann bald recht ruppig von drei dynamischen Männern mit „südländischem Aussehen“ zu Boden geworfen und bäuchlings auf Matten gelegt. Einigen werden die Hände auf den Rücken gelegt, wie gefesselt – offenbar eine Anspielung auf das US-Gefängnis Guantanamo, in dem die USA außerhalb ihres Landes und ihrer Gesetze Menschen festhalten, die sie des Terrorismus beschuldigen. Nicht nur hier tauschen Migranten und europäische Ureinwohner die Rollen, die „Neubürger“ treten später in Anzügen auf und die, „die schon länger hier wohnen“ (Zitat Angela Merkel, aber im Stück kommt das nicht vor) in abgerissenen Klamotten. Die Nachtruhe wird eingeläutet. Die Seminarteilnehmer beginnen im Liegen zu deklamieren – nicht immer ist das gut im Publikum zu verstehen, wenn sie in Richtung Decke sprechen – sie seufzen und sie jammern über vermeintliche Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren sind, alles Banalitäten. Dieses Ritual des Jammerns wird im Verlauf des Abends noch ein paarmal wiederholt.
Update zu Gorkis Sommergäste
„Die Wehligen“ ist das Update zu Maxim Gorkis Stück „Sommergäste“ aus dem Jahr 1904. Dort treffen sich die Vertreter der russischen „Bourgeoisie“, wie man sie abwertend nannte, in der Sommerfrische, faulen dekadent, saft- und kraftlos vor sich hin und jammern ebenfalls, während die kommende russische Revolution der Arbeiter und Bauern am Horizont allmählich heraufdämmert. Wenige Jahre später wird die ganze bürgerliche Kaste in Russland vom Lauf der Geschichte hinweg gespült. Gorki und seine Zeitgenossen hielten es für Fortschritt. Heute wissen wir, dass die ganze Idee Unsinn war und in eine Sackgasse führte. Zur Therapie zwecks Abbaus von Ängsten und Depressionen gehören auch Turnübungen. Die Vertreter des bürgerlichen Europas könnten gar nichts davon bewältigen – so die Botschaft – , würden ihnen nicht Einwanderer als Arbeitskräfte, hier die drei Helfer der Klinik mit migrantischem Aussehen buchstäblich unter die Arme greifen. Diese turnen im Stück immer mal durch die Halle und strahlen Kraft, Jugendlichkeit und Dynamik aus. Sie hängen die alten Männer an die von der Decke baumelnden Ringe und sorgen dafür, dass diese ein paar Übungen wenigstens simulieren können, indem sie von den Helfern auf und ab gehoben werden. Ohne die Migranten (Flüchtlinge!) geht also gar nichts.
Das Stück dauert zwei Stunden und 15 Minuten und wird in einem Rutsch ohne Pause durchgespielt. Langeweile kommt nie auf. Manche Szenen sind sehr witzig, so wie die ungelenken Turnübungen oder eine Szene, die an eine Tanzschule aus der Schulzeit erinnert. Männer auf der einen, Frauen auf der anderen Seite. Man nähert sich nur sehr zögerlich und schüchtern, bis die Paare sich endlich zu einem allerdings ungelenken Tanzritual finden.
Viel Musik
Zwischendurch gibt es viel Musik und es wird gesungen. Kirchenlieder, wie Bachs „Alle Menschen müssen sterben“:
Alle Menschen müssen sterben,
alles Fleisch ist gleich wie Heu;
was da lebet, muß verderben,
soll es anders werden neu.
Auch das Schweizer Volkslied „Oh Mensch, du musst sterben“, stößt ins gleiche Horn:
Mensch, du musst sterben und weißt gar nicht, wann,
Mensch, du musst leben und weißt nicht, wie lang,
Mensch, du musst leben und weißt nicht, wie lang.
Für Heiterkeit sorgt hingegen ein Medley mit Hits des deutschen Gesangsduos „Modern Talking“ aus den 1980er Jahren. Clemens Sienknecht singt es und brilliert mit seinen musikalischen Fähigkeiten. Zwischendurch spricht er auch mal Texte nach Art der Werbeindustrie und preist sein Casio-Keyboard an.
Als letzte Szene wird ein Schaulaufen der Darsteller geboten, die wie auf dem Catwalk über die Bühne wandeln, sich nach und nach entblättern, dabei stolz ins Publikum blicken, während ihre unverhüllte Jämmerlichkeit zum Vorschein kommt. Schließlich betten sie sich auf einen aufgeschichteten Müllhaufen zum ihrem eigenem und zum Ende des Stückes.
Im Programmheft steht ein Text von Umberto Eco. Migration sei ein nicht zu kontrollierendes Naturphänomen, schreibt er, und sehr viel weitgehender als Immigration. Hier wandern nur einige Menschen in ein anderes Land ein, dort wechseln ganze Völker ihr Siedlungsgebiet. Immigration sei politisch kontrollierbar, Migration nicht. In „Die Wehleider“ wechselt das Stück zwischendurch in die Zukunft und Entscheider berichten einem aus dem Off zu hörenden Richter des Internationalen Gerichtshofes über die Kämpfe an den europäischen Außengrenzen zwischen 2018 und 2024.
Dem Publikum wird der Spiegel vorgehalten und der kommende baldige Untergang prophezeit. Es applaudiert trotzdem brav, man hört vereinzelt sogar „Bravo“-Rufe. Flüchtlinge sitzen im Publikum natürlich keine. Migranten aber auch nicht. Sprechtheater ist eine europäische Erfindung und Bestandteil der europäischen Kultur. Anderswo weiß man nichts damit anzufangen. Die andere Welt ist übrigens nicht weit vom Deutschen Schauspielhaus entfernt. Auf dem Bahnhofsvorplatz tummeln sich ihre Vertreter und vertreiben die Zeit nach ihrem Geschmack. Noch ein paar Meter weiter, in der Steinstraße, hat der Orient schon lange Einzug gehalten.
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