Nach „Rocco Darsow“ ist „Ich kann nicht mehr“ René Polleschs zweite Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Klassisches Theater bieten René Pollesch und sein Ensemble nicht. Es gibt keine Geschichte, keine Dramaturgie und auch keine Charaktere. Das Ensemble sagt Text auf, der sich im Lauf des Stückes in Versatzstücken bisweilen wiederholt. Da es keinen dramatischen Verlauf nach klassischer Theatertheorie gibt, zählt „die Kritik“ René Pollesch zu den Vertretern der „Postdramatik“. Das Fehlen des Dramas wird im Verlauf des kurzen Abends aber von den Schauspielern durchaus beklagt – vielleicht ein augenzwinkernder Dialog des Autors mit der Kritik. Den Titel des Stückes kann man unter dem Aspekt dann auch auf zweierlei Weise deuten, je nachdem, ob man das Verb oder das Adverb betont.
Eröffnet wird der kurze Abend von einem Chor, einer Gruppe junger Frauen. Diese treten in Kampfanzügen mit schicken roten Halstüchern auf. Man fühlt sich mit ihren Uniformen an mittelamerikanische Guerillakämpfer erinnert – Che Guevara lässt grüßen. Nach einer kleinen militärischen Choreographie wird dann erst einmal vielstimmig das Publikum angebrüllt: „Ich bin der Mann“, dazu laute Musik. Dann rollen von rechts und links drei riesige Küken auf die Bühne, sechs Meter hoch oder mehr. Im Hintergrund sieht man eine gewaltige Karte der Antarktis, „Westantarctica“ und „Ostantarctica“ deutlich gekennzeichnet, als wenn das irgendwie wie von Wichtigkeit wäre. Schließlich bahnen sich die vier Schauspieler ihren Weg durch die mobile Hühner-Kulisse: Die Deutsch-Japanerin Sachiko Hara und die Schweizerin Bettina Stucky – beide spielten auch schon in Polleschs Stück „Rocco Darsow“ mit –, Daniel Zillmann und Kathrin Angerer von der Berliner Volkbühne, beide auch durch viele Rollen in Spielfilm-und Fernsehproduktionen bekannt. Mit den Schauspielern tritt auch die Souffleuse des Theaters auf, Textbuch in der Hand. Auch in „Rocco Darsow“ wurde die Souffleuse nicht irgendwo versteckt, sondern beteiligte sich, wenn notwendig, dezent am Geschehen, hier ebenfalls – ein running Gag.
Das Stilmittel eines Chores hat René Pollesch in seinen vergangenen Inszenierungen an verschiedenen Bühnen schon häufig und gerne eingesetzt. In den antiken Anfängen gehörte ein Chor zum festen Bestandteil des Theaters, war Dialogpartner der Schauspieler, sang Lieder oder erklärte den Zuschauern die Handlung. Der Chor bestand durchweg aus Männern. Hier sind es nur Frauen und so stimmt am ersten Satz, „Ich bin der Mann“ nichts, weder Numerus noch Geschlecht. Im weiteren Verlauf des Stückes übernimmt der Pollesch-Chor unterschiedliche Aufgaben: Er beteiligt sich an Dialogen mit den Schauspielern, führt dann wieder ein Eigenleben in Gestalt von militärischen Übungen und fabuliert über Probleme in der „Ostsektion“.
„Was denn für eine Ostsektion?“, wollen die Schauspieler wissen und haben offenbar keine Ahnung wovon ihr Chor spricht. Regelmäßig stört der Chor auch den Textvortrag der Schauspieler, indem er im gleichen Moment, aber vielstimmiger und lauter, selber zu sprechen anhebt. Eine witzige Idee. Die Schauspieler reden, aber man versteht sie nicht. Und darüber beklagen sie sich auch. „Der Chor funktioniert nicht mehr“, stellen die Schauspieler fest. Diese Erkenntnis bietet Anlass, über verschiedene Formen missglückter Kommunikation zu reflektieren. „Er sprach mich immer dann an, wenn ich mir gerade die Zähne putzte. So konnte ich nicht antworten. Bis ich merkte, dass er nur sprechen und kein Gespräch beginnen wollte, “ erinnert sich Kathrin Angerer. Bisweilen wird der Diskurs ins Groteske gesteigert: „Man möchte alleine zu sprechen. Ganz alleine – ohne dass überhaupt jemand zuhört.“
Wer will, bekommt im Verlauf des Abends reichlich Stoff zum Nachdenken, muss sich aber dann auch anstrengen, mit dem Tempo des von Schauspieler zu Schauspieler ständig weiter gereichten Text-Staffelstabs Schritt zu halten. Gelegentlich werden Passagen des Textes wiederholt. Zwischendurch gibt es auch Sprech-Pausen, in denen der Chor formationsweise Choreographien vorführt, begleitet von Musik, die an James Bond-Filme und die Piraten-Oper „Fluch der Karibik“ erinnert. In Abständen erscheinen die drei überlebensgroßen Küken, fahren auf die Bühne, verharren und fahren wieder von der Bühne herunter, besonders wenn sie von Kathrin Angerer angesprochen werden. In einer Szene bewaffnet sich der Chor mit Maschinenpistolen und präsentiert sich martialisch und dekorativ im künstlichen Nebel. Auch die Küken rollen nun bewaffnet ein. „Who wants to live forever“, Hymne der Rockgruppe Queen wird intoniert. Sachiko Hara hat das gleiche Motto auf ihrem T-Shirt aufgedruckt. Kate Bushs „Wuthering Heights“ begleitet die Militärgruppe mit einer Flaggenparade. Diese wird eigens als solche angekündigt. Mancher denkt vielleicht an Theodor zu Guttenbergs „Großen Zapfenstreich“ bei seinem Abgang als Verteidigungsminister: Er ließ das Bundeswehr-Musikkorps „Smoke on the water“ spielen.
Zur weiteren Erheiterung der Zuschauer fahren Sachiko Hara und Bettina Stucky zwischendurch auf ihren Stühlen an den Bühnenrändern gen Schnürboden hoch und wieder zurück – Kirmes? Später unternimmt auch Kathrin Angerer diese Fahrt nach oben, sich verwundernd umschauend.
Zum letzten Drittel des Stückes werden die Kostüme gewechselt. Der Mädchenchor verwandelt sich in einen solchen, nachdem die Frauen ihre Kampfanzüge nun mit weißen Sommerkleidern getauscht haben. Gesungen wird aber immer noch nicht. Daniel Zillmann und Sachiko Hara, zuvor ebenfalls paramilitärische gewandet erscheinen nun in zivilem Outfit, in „modern urban style“, Zillmann sieht nun aus wie ein Tourist. Kathrin Angerer hat ihr kanarienvogelgelbes Kleid gegen einen sommerlichen Hosenanzug getauscht. Die ganze Atmosphäre wird zum Schluss emotionaler. Wiederholt tut Kathrin Angerer kund, wie sehr sie das Drama vermisst. Die Schauspielerin hat einen Vortragsstil entwickelt, der zwischen leidend und vorwurfsvoll pendelt, nicht nur an diesem Abend. Im Gegensatz dazu vermittelt Bettina Stucky durch ihren fröhlichen Gesichtsausdruck stets eine positive Grundstimmung. Die Deutsch-Japanerin Sachiko Hara spricht deutsch perfekt, aber sie arbeitet an der für sie fremden Sprache, das klingt oft spannend. Und Daniel Zillmann ist bei diesem Stück auf der Bühne weit und breit der einzige Mann. Das wird an keiner Stelle thematisiert, aber damit muss er klar kommen.
Man muss das Stück nicht unbedingt als Auftrag zum Nachdenken annehmen. Die vier spielfreudigen Schauspieler, der bewegungsfreudige und dynamische Chor, die musikalischen Zwischenspiele bieten reichlich Unterhaltung, um den Zuschauern einfach einen interessanten Abend zu bieten. Schon zu Anfang des Stückes tröstet Bettina Stucky die Zuschauer: „Hört mal! Das kann jetzt nicht die ganze Zeit so weitergehen. Theaterabende sind wie das Leben. Wenn man sich nicht fest darauf verlassen könnte, dass sie mit Sicherheit irgendwann ein Ende haben werden, könnte man sie überhaupt nicht aushalten.“ In diesem Sinne werden die Zuschauer nach etwa 80 Minuten, nachdenklich oder nicht, in den Abend entlassen.
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