Molière, eigentlich Jean-Baptiste Poquelin, geboren 1622 als Sohn eines wohlhabenden Händlers, erhielt seine klassische Ausbildung bei den Jesuiten und hätte nach dem Willen seines Vaters wohl Anwalt werden sollen. Dann lernte er jedoch die Schauspielerin Madeleine Béjart kennen und sein Leben nahm eine völlig andere Richtung. Nach der missglückten Gründung einer eigenen Theatergruppe schlossen er sich mit seiner Freundin dem Theaterdirektor Du Fresne an. Schließlich übernahm Molière die Leitung dieser Gruppe und begann eigene Stücke zu schreiben. Über die Bekanntschaft mit dem jüngeren Bruder des französischen Königs Ludwig XIV., dem Herzog Philippe I. d’Orléans, erhielt er Zugang zum Hof und seine Theatergruppe stieg zur „Troupe du roi“ auf.
In seinen Stücken verarbeitete Molière mitunter brisante Themen und löste damit Kontroversen aus. Dies gilt ganz besonders für sein Stück Tartuffe. Uraufgeführt wurde es im Rahmen eines Theaterfestivals im Mai 1664 am Hof von Versailles. Im Mittelpunkt steht ein herrschsüchtiger, lüsterner und auch geldgieriger Heuchler, der sich mit Hilfe vorgetäuschter Frömmigkeit sakrosankt macht und unter dieser Tarnkappe seine Umgebung manipuliert, allen voran den Familienvorstand Orgon. Mit dem Stück zielte Molière seinerzeit auf eine einflussreiche Clique am Königshof, die sich um die Königin Mutter, Anna von Österreich geschart hatte. Das Stück wurde verstanden und verboten. Molière nahm den Kampf auf und variierte das Grundthema mit seinem neuen Stück um den Heiratsschwindler Don Juan. Dieses Stück wurde aber ebenso verboten wie die folgende Tartuffe-Variante L’Imposteur (Der Schwindler). 1669, nachdem die Königin-Mutter gestorben war und die Frömmlergruppe damit ihren Einfluss am Hofe verloren hatte, durfte schließlich eine neue Überarbeitung des Stoffes mit dem Titel „Tartuffe, ou l’Imposteur“ aufgeführt werden und wurde gefeiert.
Stefan Puchers Tartuffe-Inszenierung am Thalia Theater setzt auf optische Effekte und garniert den Handlungsverlauf mit thematische mehr oder weniger passenden Songs der schwedischen 1970er Pop-Gruppe Abba. Abba geht immer! Eine runde Drehbühne wird von einem hohen kupferroten Vorhang begrenzt. Geschlossen dient er am Anfang und am Ende des Stückes als Leinwand für Videoeinblendungen, in denen die Protagonisten überlebensgroß das Publikum anstarren. Während Karin Neuhäuser als Madame Pernelle, Orgons Mutter, ihren Sohn und sein Vertrauen in den von ihm in den Familienkreis aufgenommen Herrn Tartuffe rechtfertigt und dies mit einem ersten Abba-Lied bekräftigt, klagen die anderen Familienmitglieder danach über den schädlichen Einfluss des Gastes. Die Zofe Dorine, gespielt von Victoria Trauttmannsdorf, durchschaut das doppelzüngige Spiel des Parasiten am besten.
Schließlich tritt der Bösewicht nun endlich selber auf, erst im bischöflichen Ornat, den er aber dann gegen einen schwarzen Anzug tauscht. Jörg Pohl hat die Rolle gut im Griff und sieht mit einem überlangen weißen Kragen und den zurückgekämmten langen Haaren wirklich wie ein Haifisch aus. Auch sonst spielt die Inszenierung mit den Kostümen. Jeder Charakter hat seine eigene Farbe und seinen Stil. Orgons lilafarbener Anzug ist im Stile des Barock gehalten, aber die aufgeklebten Kreise und Punkte erinnern eher an ein Clownskostüm. Lisa Hagmeister als Elmire, die Dame des Hauses, hat ihren langen blauen Rock oft lüstern gerafft und stakst überkandidelt durch die Szenen. Nur Tartuffe hat einen schwarzen und einen roten Anzug zur Verfügung. Steffen Siegmunds (Damis) groteske Technointerpretation seines Abba-Songs im schlabbrigen Trainingsanzug ist übrigens die lustigste Szene des Abends. Tartuffe macht sich an Elmire heran, doch diese stellt ihm eine Falle und öffnet damit dem lauschenden Gatten endlich die zuvor verblendeten Augen. In seinen wahren Absichten enttarnt holt Tartuffe zum entscheidenden Schlag aus. Er kennt ein Geheimnis seines Gönners Orgon, erpresst ihn damit und will ihn um Hab und Gut bringen. Doch dann greift überraschend die Staatsmacht ein und verschafft der Gerechtigkeit Geltung. Der Schluss, so von Molière im Original vorgesehen, wirkt gekünstelt und war vielleicht ein Zugeständnis an die Staatszensur. Nach knapp zwei Stunden endet ein recht unterhaltsamer Abend, den das dankbare Hamburger Publikum mit freundlichem Applaus quittiert. So, wie Moliéres Tartuffe hier aber inszeniert wurde, entsteht der Eindruck, als habe ein altertümlicher Stoff es nötig, durch optische Effekte und poppige Gesangseinlagen aufgehübscht zu werden. Dabei ist der Tartuffe doch hochaktuell und hat in 350 Jahren nicht von seiner gesellschaftlichen Brisanz verloren. Die Tartuffes von heute kann man überall am Werke sehen. Sie haben sich in der Politik, in der Wirtschaft, in Kunst und Kultur und in anderen Bereichen der Gesellschaft bestens eingerichtet. Mit Vorschriften darüber, worüber man reden darf und worüber nicht, was man denken darf und was nicht, welche Meinung erlaubt ist und welche nicht, üben sie Macht über andere aus und lassen es sich selber dabei gut gehen. Das unzeitgemäße Gewand des gottgefälligen Menschen haben sie heute zwar abgelegt. Stattdessen erscheinen sie nun im moralisch überlegenen Glanzanzug. Tartuffe ist immer und überall.
Regie: Stefan Pucher
Bühne: Barbara Ehnes
Kostüme: Annabelle Witt
Musik: Christopher Uhe
Dramaturgie: Julia Lochte
Video: Meika Dresenkamp
Darsteller: Karin Neuhäuser (Madame Pernelle) Oliver Mallison (Orgon, ihr Sohn) Lisa Hagmeister (Elmire, seine zweite Frau) Steffen Siegmund (Damis, sein Sohn) Birte Schnöink (Mariane, seine Tochter) Bekim Latifi (Valère) Matthias Leja (Cléante, Orgons Schwager) Jörg Pohl (Tartuffe) Victoria Trauttmansdorff (Dorine, Zofe)
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