Mit ihrer respektlosen Interpretation, „Effie Briest, aber mit anderem Text und auch anderer Melodie“ haben die Regisseure, gleichzeitig auch Autoren, Barbara Bürk und Clemens Sienknecht am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg ein schönes neues Fass aufgemacht, dessen sie sich nun mit der Folge „Anne Karenina, aber mit anderem Text und auch anderer Melodie“ weiter auf glänzende Weise bedienen. „Berühmte Seitensprünge der Weltliteratur“ werden in dieser Reihe auf erfrischende Weise neu erzählt.
Die Kulisse von Anne Karenina im kleinen „Malersaal“, der „Experimentierbühne“des Schauspielhauses, ist haargenau die gleiche wie bei Effi Briest, und viele Gags sind es auch. Und auch das Personal ist dasselbe. Warum sollte man es auch ändern? Never change winning Team! Die Geschichte ist jedoch diesmal eine ganz andere. Das 1200 Seiten dicke Werk „Anne Karenina“ von Leo Tolstoi wird zur Aufführung gebracht – aber natürlich nicht auf adäquate Weise: Wie der Vorläufer Effi Briest, dient es als Vorlage für einen großen gelungenen Schabernack eines bestens aufgelegten Ensembles. Tolstois großes Werk über bürgerliche Doppelmoral, gesellschaftliche Zwänge und große Gefühle im zaristischen Russland erschien 1877/78 und beginnt mit einem der berühmtesten Sätze der Weltliteratur: „Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche ist auf ihre Art unglücklich“ – nicht aber im Malersaal des Schauspielhause. Nach einer ersten Musikeinlage wird eine „Hörplatte“ auf einem Reiseplattenspieler abgespielt und der Satz in verschiedenen Varianten verballhornt, zum Beispiel: „Alle glücklichen Familien sind unglücklich“, oder ähnlich. Am Ende stimmte der Satz dann aber doch noch und das Spiel kann beginnen.
Effi Briest und jetzt Anna Karenina werden in einen Rahmenprogramm als eine Art Hörspiel präsentiert. Ein Radiosender der – vielleicht – späten 1970er hat dieses im Programm. Die flockig-lockeren Moderatoren unterbrechen bisweilen für eingespielte Werbesprüche oder Musik. Musik, manchmal auch verbunden mit grotesk wirkenden Tanzeinlagen, ist das vielleicht wichtigste Element des Stückes – Livemusik! Die sieben Akteure sind allesamt auch großartige Musiker. Oder anders: Die sieben Musiker sind auch tolle Schauspieler.
Die ganze Szenerie ist auf die Zeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts angesiedelt: Die 1970er? Oder 1980er? Einerlei. Die Kostüme sind von ausgesuchter Scheußlichkeit. Schlabbrige Jeans, hässlich braune Stoffhosen, ebenso hässliche Cordkostüme,windige Blousons in Aubergine. Nur Ute Hanning, die einzige echte Frau hier– im Verlauf des Abends gibt es auch einige falsche – darf bisweilen einigermaßen geschmackvoll gekleidet agieren – wäre da nicht das überdimensionierte vogelnestartige Haarmonster auf ihrem Kopf. Ute Hanning ist Anna Karenina, so gut wie ausschließlich, wenn sie nicht gerade zwischendurch mal als Moderatorin oder Nachrichtensprecherin fungiert. Yorck Dippe, mit langmähnigen Haarfuseln ausstaffiert und oft im weißen Saturday Night-Glitzerlook agierend, ist meistens Graf Alexej Wronski – der Womanizer des Tolstoj-Romans. Wenn sein Name genannt wird, folgt ein Echo mit Hall. Wronski macht Anna Karenina den Hof, doch zugleich ist Kitty Schtscherbazkaja in ihn verliebt. Kitty wird von Clemens Sienknecht gespielt, nicht nur musikalischer Mastermind des ganzen Spaßes. Er wird dabei tatkräftig vom vielseitigen Jazz- und Theatermusiker Friedrich Paravicini unterstützt. Da Kitty sich in den Grafen Wronskij verguckt hat, gibt sie dem Werben von Kostja Lewjin, alias Jan-Peter Kampwirth, nicht nach, erst ganz zum Schluss. Kittys Schwester Dolly, verkörpert von Martin Wittenborn, ist mit Stiwa Oblonskij verheiratet, aber kreuzunglücklich, denn der betrügt sie. Martin Wittenborn muss aber auch als gehörnter Alexei Karenin, Gatte der Anna Karenina, einiges aushalten. Meist steht er im braunen Wollmantel wie ein begossener Pudel dar. Dann erscheint er mit übergroßen abstehenden Ohren als eine Art Mr. Spock der bürgerlich-russischen Literatur und trägt mit eiserner Miene seine Gesangsstücke vor. Später muss er auf Knien rutschend als russisch-orthodoxer Priester eine Ehe stiftend. „Wir danken für die Bereitstellung des Kleindarstellers“, kommentiert das Radio. Political Correctness? Am Arsch! Danke!
Markus John ist der durchtriebene Stiwa Oblonskij, mit hübschem grauen Backenbart. In einer Szene spielt er den Versöhnungsversuch des Schwerenöters Stiwa mit seiner betrogenen Gattin so überzeugend, dass Martin Wittenborn, als Gattin, kaum an sich halten kann vor Lachen – ebenso wie das Publikum. Sliwa Oblonskijs Ehebruch und die drohende Scheidung von seiner Frau ist überhaupt der Grund, warum Anna Karenina, Sliwas Schwester aus St. Petersburg nach Moskau reist – nämlich, um mit ihrer Schwägerin zu sprechen und die Ehe zu retten. Dort am Bahnhof begegnet sie schicksalhaft dem Grafen Wronskij. Und so kommt diese Geschichte in Gang. Anna würde sich in Liebe zu Wronskij scheiden lassen, ist jedoch über ihren Sohn Serjoscha an ihren Mann gebunden. Zwänge, wohin man schaut. Man sieht auch, die ganze Geschichte ist überaus kompliziert und unter 1200 Seiten in ihren vielen Nuancen kaum zu erzählen. Eigentlich. Die Darsteller im Schachspielhaus schaffen es schneller. So ist es auch im Programm angekündigt: Dauert mindestens 100 Minuten, auf keinen Fall mehr als 119 Minuten. So war es. Das geht natürlich nicht ohne eine gewisse Straffung der Vorlage: „ Wir überspringen jetzt mal 500 Seiten.“ Das Publikum hat die 500 Seiten nicht vermisst. Ohnehin geht es ja hauptsächlich um Musik und die Freude am Spiel. Nach kleinem anfänglichem Zögern zollte das Publikum nach jeder gelungenen Episode offenen Szenenapplaus.
Die nächste Folge der Reihe wurde am Ende des Stückes auch schon angekündigt: „Die Nibelungen, Teil Zwei – Kriemhilds Rache“.
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