Wie würde wohl die teutonische Brachial-Rockband Rammstein ein Konzept-Album mit der Geschichte von den ausgesetzten Kindern Hänsel und Gretel verwirklichen? Wohl genau so, wie es im Thalia-Theater aufgeführt wurde, vielleicht noch mit etwas mehr Leder. Zusammen mit dem Rammstein-Frontman Till Lindemann haben die beiden litauischen Regisseure Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo die Märchengeschichte als düstere Rockoper in Szene gesetzt. Die dramatische Reise beginnt im Haus der Eltern von Hänsel und Gretel beim Abendessen. Die Szenen dort im Haus und später auf der Bühne werden fast durchgängig von Kameramännern begleitet, die sich zwischen den Schauspielern hindurch bewegen, ihnen sehr nahe kommen und häufig die Bilder der Gesichter in Großaufnahme live auf eine zumeist über der Bühne hängende Video-Leinwand projizieren. Zumindest wird den Zuschauern dies vorgegaukelt, denn die Szenen, an denen Till Lindemann als stiller schwarzer Beobachter oder bunt geschminkter lärmender Clown beteiligt ist, sind nicht live, sondern werden als Aufzeichnung eingespielt. Der Rammstein-Frontmann ist nicht leibhaftig zugegen. Aber die übrigen Schauspieler schaffen durch ihr synchrones Spiel zu den aufgezeichneteten Videosequenzen eine Live-Illusion. Das ist geschickt gemacht. Bisweilen erscheint im Bühnenhintergrund noch eine zweite Leinwand auf der die von Lindemann vorgetragen Lieder als Videoclips eingespielt werden. Sie sind der Kommentar zur Geschichte. Till Lindemann agierte als der derzeit wieder gern zitierte antike griechische Chor – in einer Ein-Mann-Version.
Hänsel (Kristof Van Boven) und Gretel (Natalia Rudziewicz – die die Rolle für die erkrankte Marie Jung übernommen hatte), ebenso die Eltern Gabriela Maria Schmeide als Mutter und Tim Porath als Vater, sind mit Hilfe von Latex-Teilmasken und ausgestopften Kostümen auf groteske Weise überzeichnet.
Nach dem Abendessen werden die Kinder noch liebevoll zum Schlafen gebracht. Die Mutter liest die Geschichte vom Mäuschen, dem Vögelchen und der Bratwurst vor – ein Märchen im Märchen. Dort erfüllen alle ihre Aufgabe, bis der Vogel rebelliert. Er erzwingt eine andere Arbeitsteilung, an der aber alle scheitern, umkommen oder zumindest zu Schaden kommen. Als die Kinder schlafen, beklagt die Mutter gegenüber ihrem Mann, dass das Geld zum Leben nicht reicht. Im Märchen will die Stiefmutter hier die fremden Kinder loswerden, in der Thalia-Version regiert vor allem der Überfluss. Im Vergleich mit dem Zweitwagen, dem Netflix-Abo oder dem Fitness-Studio kann man auf die beiden Kinder am ehesten verzichten, befinden die Eltern, und so werden Hänsle und Gretel im Wald ausgesetzt. Sie irren dort umher und treffen schließlich auf die Hexe. Björn Meyer spielt diese als Fetish-affinen Transvestiten, eine Mischung aus Devine und Hape Kerkeling (nicht optisch, aber in der Diktion) und lädt die Kinder zur Fress-Orgie ein. Hänsel beißt an und stopft Burger und Sahnetorten bis zum Koma in sich hinein. Till Lindeman singt im Video ein fröhliches Lied dazu, frisst mit und spuckt zum Schluss überlebensgroß alles wieder aus, in Richtung Publikum. „Entweder sie ziehen sich nackt aus oder sie machen dies“, kommentiert dort jemand das Geschehen. Pause.
Zu Beginn der zweiten Halbzeit hat sich Hänsel in eine total verfettete Version seiner selbst verwandelt und kann von der/dem Hexe nur noch per Flaschenzug aus seinem Sitz gehoben werden, um ihn in eine bereit gestellte Wanne verfrachten. In dieser soll der gemästete Hänsel im Ofen gebraten werden, aber Gretel schafft es, ihren Bruder hinauszuziehen und stattdesse die Hexe in die Wanne zu schubsen, von wo sie im Ofen verschwindet.
Grete und der fette Hänsel laufen davon. Aus dem Off ertönt dann bald Lindemanns Stimme, der verkündet, dass Gretel nun in einen Stein verwandelt werde, da Hänsel sich mit seiner Völlerei daneben benommen habe. Die Maus aus dem anderen Märchen (Rafael Stachowiak) erklärt Hänsel, wie es sich mit der Liebe und dem Werben der Geschlechter umeinander verhält. Die Motive aus verschiedenen Märchen laufen nun zusehend durcheinander. Ein totel verfetteter nackter Hänsel, unter dessen dickem Bauch ein kleiner Zipfel hängt, hadert mit der Welt, einige junge Frauen im Publikum kichern, Zwischendurch gibt es die Lindemann-Lieder, in verschiedenen Stilen. Melancholisch oder gewaltig oder auch mal als Moritat in optischer Westernromantik.
Am Ende der Vorstellung kommt die Familie aber irgendwie wieder zusammen. Es gibt Abendbrot, als wäre nichts gewesen.
Mehr Worte als nötig werden bei dieser Aufführung nicht gemacht, aber Stimmung. Die beiden litauischen Regisseure setzen vor allem auf grelle Lichteffekte in einem düsteren Bühnenbild – und auf die Musik von Till Lindemann.
Die recht schrille Version der Grimm‘s Märchen kam im Feuilleton nicht so gut an, erreichte aber das Publikum, das diesmal durchaus etwas jünger war als sonst. Nach der Aufführung gab es Jubel und sogar einen Anflug von Standing Ovations. Wer die Vorstellungswelt und Ästhetik von Rammstein gewohnt ist, dem wird auch dieser Märchenvortrag gut gefallen. Die Musik wird ein Jahr nach der Premiere, im April 2019, übrigens auf einem Album des Lindemann-Projekts erscheinen.
Regie: Ene-Liis Semper, Tiit Ojasoo
Bühne, Kostüme und Video: Tiit Ojasoo, Ene-Liis Semper
Komposition: Jakob Juhkam, Till Lindemann, Peter Tägtgren, Clemens Wijers
Musikalische Leitung: Jakob Juhkam
Songtexte und Gesang: Till Lindemann
Kamera: Martin Prinoth, Rasmus Rienecker, Lilli Thalgott
Dramaturgie : Sandra Küpper
Darsteller: Kristof Van Boven, Till Lindemann, Björn Meyer, Tim Porath, Natalia Rudziewicz , Gabriela Maria Schmeide, Rafael Stachowiak
Lichtdesign Bertil Mark, Associated Lightingdesign & Lightingdirector Justus Molthan
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