„Apollon Musagète“ (Apollon, Führer der Musen) ist ursprünglich ein Ballett in zwei Bildern mit der Musik von Igor Stravinsky und einer Choreografie von George Balanchine. 1928 wurde das Ballett in Washington uraufgeführt. Im gleichen Jahr fand auch im Théâtre Sarah Bernhardt die europäische Uraufführung durch das Ballett russe statt. In dem halbstündigen Ballett tanzt der Gott der Musik, Apollon, mit den drei Musen, Terpsichore, Muse des Tanzes und des Liedes, Kalliope, Muse der Poesie und Polyhymnia, Muse der Pantomime, und wählt sich seine Lieblingsmuse aus.
Mit dem klassischen Ballett hat die Interpretation von Florentine Holzinger und ihrer ausnahmslos weiblichen Truppe nicht viel im Sinn. Die sechs Tänzerinnen, oder: Körper-Aktivistinnen, ihrer Apollon-Interpretation präsentieren stattdessen einen Mix aus Freakshow und Varietéinlagen. Es gibt auch Ansätze von Ballett, allerdings nur im kritischen Zitat. Im ausschließlich weiblichen Cast wird die Apollon-Geschichte neu erzählt, die klassische Rollenverteilung der Geschlechter wird aufgehoben und neu definiert.
Während die Zuschauer noch ihren Platz suchen, warten im Halbdunkel bereits drei der Darstellerinnen auf ihren Einsatz. Unbedeckte weibliche Haut ist im Verlauf der Aufführung das einzige Kostüm. Rechts und links steht je ein Laufband aus dem Fitness-Studio. Körperkult! In der Mitte der Bühne ist, anfangs noch verhüllt, ein mechanischer Stier aufgebaut, so wie man ihn von amerikanischen Rodeo-Shows kennt. Die 100-minütige Performance beginnt damit, dass sich erst Florentine Holzinger selbst, und dann noch eine zweite Tänzerin beide einen ziemlich langen Nagel in die Nase treiben. Das Publikum weiß nun Bescheid: Die kommende Aufführung wird einige extreme Bilder bereit halten.
Evelyn Frantti bestreitet als Frontfrau die nächsten Minuten im Varieté-Stil und kündigt drastische Eindrücke an: Echten Schweiß, echtes Blut und echte Schmerzen. Den Worten lässt sie Taten folgen. Zunächst schluckt sie einen langen schmalen Luftballon, fast ein Meter lang, und zieht diesen dann an anderer Stelle, wenn auch nur noch als luftleere Hülle, wieder aus ihrem Körper heraus. „It’s a boy“, ruft sie und wirft ihn ins Publikum. Zu ernst soll es an diesem Abend also nicht zugehen. Dann sticht sie sich jedoch an jedem Arm zwei lange Nadeln durch die Haut, auf deren Enden kleine Kuchenkerzen stecken, zündet sie an und singt, währenddessen sie anmutig vor dem Publikum tänzelt, „Happy Birthday“. In diesem Stil macht sie weiter. Die nackte Tänzerin tackert sich Spielkarten auf den Körper. Später sticht sie sich auch noch Nadeln durch die Stirn, bis Blut kommt. Freak-Show! Nicht alle ihre Einlagen sind blutig. So schiebt sich Evelyn Frantii in einem der Bilder einen Schlauch in die Nase und holt das andere Ende aus dem Mund wieder hervor. Dann steckt sie das eine Ende in ein Glas mit Gin-Tonic und fragt im Publikum nach, wer den Drink zu sich nehmen möchte, der zuvor durch ihren Kopf hindurch geflossen ist. Sie findet auch jemanden, der dazu bereit ist, wohl nicht ganz unvorbereitet. Florentine Holzinger und Maria Netti Nüganen betätigen sich unterdessen als Gewichtheberinnen und stemmen wirklich schwere Gewichte an ihren Langhanteln. Zwischendurch wird Zirkusakrobatik vorgeführt. Hinten auf dem Stier reitet unterdessen eine weitere Tänzerin, Renée Copraij, und versohlt der Kollegin Annina Lara Maria Machaz den Hintern. Später gibt sie die Dame mit Bart. Es gibt Anklänge an die Filmwelt, wenn Holzinger mit Darth Vader Maske das Laufband betritt und den übrigen Tänzerinnen eröffnet, sie sei ihrer aller Mutter. Dann wird ein Stunt vorgeführt, bei dem sich Florentine Holzinger an einem Gurtsystem in die Luft schleudern lässt, um im Flug Maria Netti Nüganen zu Boden zu treten. Der Stunt wird einige Male wiederholt. Die Darstellerinnen müssen sich quälen. Annina Lara Maria Machaz hat einen lauten Slapstick-Auftritt als Calamity-Jane. Mit Schnurbart, Cowboystiefeln und einem Gewehr kommt sie dem Publikum sehr nahe, läuft durch die Sitzreihen und verfängt sich, auf die Bühne zurückgekehrt, in einer Bärenfalle. Mit großem Geschrei und unter reichlich Kunstblutverlust sägt sie sich erst einen Arm, dann ein Bein ab. Grand Guignol!
Zwischendurch wird dann auch das Ballett bemüht: Florentine Holzinger und Maria Netti Nügenen stehen eine gefühlte Ewigkeit nur mit Ballett-Spitzenschuhen bekleidet auf den Fußspitzen, tänzelnd, bis ihre Körper in Schweiß gebadet sind. Xana Novais erleichtert sich dazu in ihrem Solo in Marmeladengläser. Zum Abschluss des Abends wird der alte männliche Gott Apollon, der Stier, mit der Flex demontiert. An seine Stelle tritt Maria Netti Nüganen und reitet auf den Resten. Die Musen verbinden sich nun einander penetrierend zu einer Kette und kriechen prozessionsartig zu ihrer neuen Göttin.
Florentine Holzingers sieht ihre Performance „Apollon Musagète“ als Utopie für eine Welt, in der keine Männer mehr existieren. Es ist eine Collage mit Bildern einer extremen Body-Art-Show, in der es für die beteiligten weiblichen Körper keine Grenzen mehr zu geben scheint. „Die Side-Show“, sagt Florentine Holzinger, „war dabei nur das Mittel zum Zweck, um Frauen zu finden, die ein reflektiertes Verhältnis zu Scham haben und sich trauen frei und wild zu sein.“ „Apollon“ pendelt gekonnt zwischen seinen Elementen aus Kunst und Schock-Unterhaltung. Ihre körperbetonte Form der Darstellung sieht Florentine Holzinger auch als Erneuerung des Theaters. Dort sitzen die Leute und langweilen sich. Hier wissen die Zuschauer nicht, was als Nächstes kommt und können sich gepflegt gruseln. Unterhaltsam war es allemal!
Apollon Musagète teaser 1 from Florentina Holzinger on Vimeo.
Mit: Renée Copraij, Evelyn Frantti, Annina Lara Maria Machaz, Xana Novais, Maria Netti Nüganen und Florentine Holzinger
Musik: Stephan Schneider, Dramaturgie: Sara Ostertag
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