Orpheus am Thalia Theater

Orpheus am Thalia-Theater
Orpheus am Thalia-Theater

Die Geschichte von Orpheus und Eurydike ist eine der bekanntesten Mythen der Antike. Der begnadete Sänger Orpheus trifft auf seiner Reise mit den Argonauten auf die Nymphe Eurydike. Sie verlieben sich ineinander, heiraten und sind das glücklichste Paar ihrer Zeit. Als Eurydike für ihren Mann auf dem Feld Blumen pflücken will, wird sie vom Gott Aristaios verfolgt, der sie vergewaltigen will. Auf der Flucht wird sie von einer Schlange gebissen und stirbt. In der Vorstellung der Antike werden die Toten in das Reich des Gottes Hades und seiner Frau Persephone, in die Unterwelt geschafft. In seinem großen Kummer folgt Orpheus seiner verstorbenen Frau dorthin, rührt mit seinem betörenden Gesang die Herzen und erwirkt bei Persephone die Erlaubnis, seine Frau wieder zurück in die Welt der Lebenden zu führen. Hades verlangt allerdings, dass Orpheus sich nicht umdrehen darf, während Eurydike ihm folgt. Doch Orpheus handelt gegen das Gebot, als er Eurydikes Schritte nicht mehr hört, dreht sich nach ihr um und verliert seine Frau für immer.
In seiner sehr freien Inszenierung des Stoffes am Thalia Theater stellt Regisseur Antu Romero Nunes die erste Begegnung von Orpheus und Eurydike und ihr Verlieben ineinander an den Anfang der Geschichte. Orpheus ist hier eine Frau, dargestellt von Lisa Hagemeister, Eurydike – Marie Löcker – ist nicht nur aus dem Titel des Mythos verschwunden, hier ist auch noch taubstumm. Den bezaubernden Gesang ihres Liebhabers Orpheus kann sie nicht hören und liebt ihn nur um seiner selbst, nicht weil er ein Star ist. Die Darstellung der Liebe zwischen den beiden Frauen geschieht wortlos auf einer fast leeren Bühne, nur ein Klavier fährt im Halbdunkel im Kreis herum. Orpheus singt Chansons und spanische Schlager. Die Musik dazu zum Stück kommt live aus dem Orchestergraben und stammt von Anna Bauer und Johannes Hofmann. Orpheus sitzt bald auf dem Klavier, spielt mit den Füßen. Später dient das Musikmöbel als Paravent, wenn sich das Frauen-Paar dahinter ihrer Liebe hingibt.
Schließlich treten die Götter auf. Nein, sie kriechen aus dem Dunkel herbei, so wie die Orks im Film „Herr der Ringe“ oder eine Gruppe Untoter aus der Zombie-Serie „The Walking Dead“. Weiß eingekalkt, irgendwie fremd, erinnern sie in ihrem Erscheinungsbild bisweilen an das, was sie eigentlich sind – Statuen, Bilder einer antiken Vorstellungswelt, hier als eine reine Männergesellschaft. Die Götter stellen sich tanzend und lärmend vor: Sebastian Zimmler als Dionysos, Beti Latifi als Hermes, Sven Schelker als Apollon und Björn Meyer als Amor Pascal Houdos als Obergott Zeus. Jeder von ihnen verkörpert ein anderes Prinzip: Amor steht für Hedonismus, Gefühle und das große Fest, der Götterbote Hermes reist im Postpaket und liefert auch Eurydike am Bestimmungsort ab. Apollon beschwört die Kraft der Liebe und Schönheit. Für Dionysos ist und wird alles zum Rausch. Und Zeus ist pure Kraft und Gewalt. Eine große Gruppe Tänzer kommt hinzu und verwandelt die Bühne zusammen mit den Herren Göttern nun in eine große wummernde Rave-Party mit ekstatischem Tanz. Zwei Lichtkegel formen ein großes helles X. Eines von vielen beeindruckenden Bildern an diesem Abend. Am Ende fällt Zeus über Eurydike her, vergewaltigt sie hinter dem gleichen Klavier, hinter dem sie sich mit Orpheus geliebt hatte, und tritt sie tot. Der Übergang ins Totenreich, eigentlich wird Eurydike dorthin verschleppt, wird in einem weiteren starken Bild verdeutlicht. Der Grenzfluss Styx ist eine Plastikplane, über die Tote gestülpt. Darunter stehend ist sie für den trauernden Orpheus nicht mehr erreichbar. Nach und nach kommt das Wort ins Spiel. Die Figuren fangen an zu sprechen, allen voran die Götter. Aber auch Eurydike hat im Totenreich Stimme und Gehör bekommen und redet einen belanglosen Wortschwall in bairischer Mundart. Doch im Wesentlichen kreisen die Texte um existentielle Dinge – die Liebe, die Schönheit, Reden und Schweigen und das Ende jeder menschlichen Existenz, den Tod. Nietzsche und Schiller, der Comte des Lautréamont und einige weitere Denker werden zitiert. Der Mensch als Spielball der Götter gezeigt, die über sein Geschick nach Belieben bestimmen. Dionysos trägt Eurydike wie eine Schaufensterpuppe von der Bühne, dann wieder zurück.


Schließlich kommt Orpheus auf einem Kinderfahrrad mit montiertem Mikrophon und fährt singend in die Unterwelt ein. Dem Zerberus hat er mit seinem Gesang die Stimme zum Bellen geraubt. „Schau dich nicht um!“, ruft Eurydike. Das Licht geht aus und das Publikum glaubt, mit dem Kernsatz sei das Stück zu Ende und feiert schon die Darsteller und die Inszenierung. Aber es ist noch nicht zu Ende. Unsere Göttergesellschaft macht noch Späße in Zeitlupe und schließlich wird die antike Geschichte ordnungsgemäß zu Ende gespielt. Eurydike darf gehen. Beim Übergang vom Jenseits ins Diesseits verliert sie wieder ihre Stimme und ihr Gehör. Orpheus hört sie nicht mehr und dreht sich um.

Orpheus am Thalia Theater
Orpheus, eine musische Bastardtragödie

Der Orpheus-Mythos bewegt sich in der Inszenierung des Thaliatheaters als ausdruckstarke und bildgewaltige Musik-und Tanzperformance zwischen verschiedenen Spannungspolen und diskutiert dabei mit Zitaten aus der europäischen Geistesgeschichte Grundfragen menschlicher Existenz. Besonders dort, wo das Spiel auf die Bewegung und das Bild setzt, ist sie besonders beeindruckend. Am Ende wurden die Darsteller, Tänzer und Musiker vom Publikum ausgiebig gefeiert.

Orpheus
Eine musische Bastardtragödie frei nach dem Mythos

Regie: Antú Romero Nunes
Ausstattung: Jennifer Jenkins und Matthias Koch
Musik: Johannes Hofmann (Leitung) und Anna Bauer
Choreographie: Eyal Dadon
Dramaturgie: Christina Bellingen
Darsteller: Lisa Hagmeister, Pascal Houdus, Bekim Latifi, Marie Löcker, Björn Meyer, Sven Schelker, Sebastian Zimmler.
Tänzerinnen und Tänzer: Joao Assmann, Lena Boneß, Nora Elberfeld, Victoria González Chávez, Moe Gotoda, Ida Horlyck, Nana Anine Jorgensen, Kristina Schleicher, Sophia Schönert, Elvan Tekin, Tirza Ben Zvi.
Live-Musiker: Anna Bauer, Carolina Bigge, Natascha Protze, Kerstin Sund, Anita Wälti

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