Schon der Namen des letzten Stückes von Johann Nepomuk Nestroy (1801-1862) deutet an, dass dessen Inhalt nicht unbedingt ernst genommen werden soll: „Häuptling Abendwind oder Das greuliche Festmahl -Indianische Faschings-Burleske in einem Akt.“
Nestroy sollte eigentlich Jurist werden, brach das Studium aber ab und wandte sich der Bühne zu, zunächst als Pianist und Sänger, dann auch als Schauspieler und schließlich als Bühnenautor in der Tradition der Altwiener Volkskomödie. Er schrieb 83 Stücke, in vielen übernahm er selbst die Hauptrolle.
„Häuptling Abendwind“ war sein letztes Stück, 1862 uraufgeführt, und folgt inhaltlich recht exact der Operette „Vent du Soir ouL’horrible festin, Operette à Spectacle en un acte“ von Jaques Offenbach. Nach ein paar Aufführungen wurde das Stück wieder abgesetzt, dann völlig vergessen und erst 1914 wiederentdeckt, um dann erneut mehr oder weniger in der Versenkung zu verschwinden. Mit seiner Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus im kleinen Malersaal beweist Christoph Marthaler, dass Nestroys Satire bis heute nichts von seiner politischen Aussagekraft verloren hat. Ein paar moderne Hinzufügungen zum Original gibt es aber doch.
In Nestroys Geschichte empfängt „Abendwind der Sanfte“, Häuptling einer Insel im Stillen Ozean seinen Kollegen von der Nachbarinsel, Häuptling „Biberhahn, den Heftigen“. Es geht um Beziehungspflege und darum, wie man sich verhält, wenn man von den Europäern „entdeckt“ wird. Abendwind wartet noch auf seine „Entdeckung“, während Biberhahn das schon hinter sich hat. Nun frönen beide Zivilisationen der Sitte des Kannibalismus und im Verlauf des Empfangs stellt sich heraus, dass jeder der beiden die Ehefrau des anderen gefangen genommen und gegessen hat, ohne dass der andere davon weiß. Der Verlust wird mit stoischer Gelassenheit hingenommen, während man diplomatische Höflichkeiten austauscht. Abendwind ist etwas in Not, da er zur Zeit keinen Gefangenen hat, den er als Gastmahl zubereiten könnte. Da wird der schiffbrüchige Friseur Arthur auf die Insel gespült. Die Häuptlingstochter Atala verliebt sich in den Fremdling und hofft, ihn heiraten zu dürfen. Häuptling Abendwind freut sich jedoch, dass er nun jemanden für das Gastmahl hat, lässt Arthur einfangen und übergibt ihn seinem Koch Hugo.
Beim Warten auf das Mahl hält Biberhahn bei Abendwind förmlich um die Hand von dessen Tochter Atala für seinen Sohn an, den er als Kind zur Erziehung nach Europa geschickt hat und dessen Rückkehr er erwartet. Abendwind ahnt, dass es Biberhahns Sohn ist, den er gerade als Gastmahl zubereiten lässt.
Schließlich wird das Mahl serviert. Biberhahn verschluckt sich fast an einem dicken Brocken. Wie sich später herausstellt, handelt es sich um die Spieluhr, die er einst seinem Sohn mitgegeben hat. Anhand der Melodie, die nun in seinem Bauch ertönt, erkennt er die Uhr wieder und weiß nun, dass er seinen Sohn gegessen hat. „Der Sohn ist in den Schoß seiner Familie zurückgekehrt,“ kommentiert Josef Ostendorf alias Häuptling Abendwind trocken. Zum Schluss gibt es aber ein Happy End, denn Arthur hat Abendwinds Koch bestochen und der hat statt ihn, einen Bären zubereitet.
Die Schauspieler hatten offenbar einen Heidenspaß, dieses vergessene und so kunstvoll entstaubte Stück aufzuführen. Als besonderen Regiegag, tragen sie alle über ihren Zähnen künstliche Übergebisse, welche sie etwas verfremdet und außerdem zu einer besonders deutlichen Aussprache der österreichisch eingefärbten Textvorlage zwingt.
Josef Ostendorf bleibt in allen Situationen stets gelassen, rollt dabei vielsagend mit den Augen. Nur bei den gelegentlichen Handshakes mit Häuptling Biberhahn für die imaginären Fotografen verzieht er das Gesicht zu einer Grimasse und bei einer Musik-und Tanzeinlage auch zu einer richtigen Fratze, die an den US-Präsidenten Donald Trump erinnern soll. Seinen Text spricht Ostendorf ohne Emotionen durch die Lücken seines Übergebisses hindurch. Eine wirklich grandiose Darstellung liefert Sasha Rau als Häuptlingstochter Atala. Oft spricht sie ins Publikum hinein, ist diesem räumlich meist am nächsten und auch sonst sehr präsent. Samuel Weiss ist Häuptling Biberhahn und hat unter anderem einen sehr überzeugenden Auftritt beim Herunterwürgen des fragwürdigen Mahls,i inklusiver der unverdaulichen Spieluhr,
Der bekannte Schweizer Schauspieler und Regisseur Ueli Jäggi spielt den Häuptlingssohn Arthur, der in Europa eine Friseurausbildung erhielt und mit seinem Fön herumfuchtelt wie mit einer Pistole. Jäggi, 64 Jahre alt, ist inzwischen für die Rolle des jugendlichen Liebhabers vielleicht schon etwas in die Jahre gekommen. De facto ist er ja sogar deutlich älter als sein Rollenvater Samuel Weiss. Sei’s drum. Bei diesem Stück ist eh alles verkehrt herum. Die wilden Insulaner sind die Zivilisierten und über die Europäer sprechen sie, als ob diese die noch zu Zivilisierenden wären. Und dann gibt es da ja noch den Koch Ho-gu (eine Verballhornung von Hugo). Die Kochkunst ist eben überall auf der Welt französisch auch auf noch „unentdeckten“Pazifikinseln. Marcc Bodnar, Ho-gu ist fürs Grobe zuständig, schlachtet die Gefangenen und bereitet die kannibalischen Mahlzeiten zu. Sein mehrgängiges opulentes Mal ist mit vielen tagespolitischen Anspielungen gespickt.
Für einen musikalischen Rahmen, modern an der Hammond-Orgel (Beatles,Jürgen Drews) und klassisch am Piano (Chopin) sorgen Hubert Casio (Clemens Sienknecht) und Sigiswald Hohner (Bendix Detleffsen). Sie sind gleichzeitig die Delegationsleiter der beiden Häuptlinge. Häuptling Abendwind ist kein Freund klassischen Musikund ruft laut „nein!“, wenn es ihm zuviel wird.
Es gibt viele lustige Anspielungen und Späße. Wenn einer derProtagonisten eine Rede hält, dann fällt der Rest sofort in Tiefschlaf. Mittendrin gibt es ein Zwischenspiel nach Art der ermüdenden Fernseh-Rederunden („Talk-Show“), moderiert von Josefine Israel. Für eine Veranstaltung der Altsprachler wurde ein Vertreter der Renaissance-Humanisten eingeladen und damit die Novisten vor den Kopf gestoßen. Die Diskussion verläuft nach allseits bekanntem Bla-Bla-Schema.
Ein grandioser Abend!
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