Nach drei Stunden (Pause inklusive), waren fast alle tot. Zumindest auf der Bühne. Die von Karin Beier inszenierte Fassung von König Lear spielt in einem grauen schmucklosen Kasten, der schräg auf die Bühne gesetzt wurde, so dass die Darsteller aufwärts steigen müssen, wenn sie sich in den hinteren Bereich der Bühne bewegen, und darauf achten müssen, nicht von der Bühne in die Zuschauer zu stürzen, wenn sie sich abwärts in Richtung Bühnenrand bewegen.
Die Geschichte ist diese: Der alte und schon etwas wunderliche König Lear ist seines Amtes müde und will sein Reich an seine Töchter aufteilen. Vorher sollen sie ihm noch einmal erzählen, wie sehr sie ihn lieben und was er für ein toller Typ ist. Seine beiden älteren Töchter Goneril und Regan kommen der selbstgefälligen Bitte nach und erhalten ihren Anteil. Die jüngste Tochter Cordelia findet den Wunsch des Vaters albern, verweigert sich und wird verstoßen. Ihr Anteil wird unter den anderen beiden Töchtern aufgeteilt. Mit seinem treuen Gefolgsmann Kent überwirft König Lear sich ebenfalls und verbannt auch diesen. Aus Treue gegenüber seinem Herrn kehrt er jedoch verkleidet zu seinem König zurück.
Als „Altenteil“ hat sich König Lear von seinen beiden älteren Töchtern ausbedungen, mit seiner Leibgarde von 100 Mann im monatlichen Wechsel mal bei dieser, mal bei jener Tochter in deren Schlössern zu leben. Er beginnt ihnen aber bald lästig zu werden. Nachdem er sich mit Goneril zerstritten hat, zieht Lear vorzeitig zu Regan. Diese hat den Boten ihres Vaters jedoch den Bock schließen lassen und empfängt den König im Ruhestand überhaupt nur widerwillig. Lear wird nur noch von seinem verkleideten Gefolgsmann Kent und vor allem von seinem Narren unterstützt. Letzterer wirft dem früheren König in seinem Narrenkostüm unverblümt die Wahrheiten an den Kopf und vermittelt ihm auf diese Weise, wer hier der Idiot ist. Manfred Mans Melodie und Textzeile “Ha! Ha! Said the clown, has the king lost his crown”, wird zum Leitmotiv und des mehr als einmal zitiert.
In einer Parallelgeschichte intrigiert der uneheliche Sohn des Grafen Gloucester, Edmund, mit Erfolg gegen seinen Halbbruder und ehelichen Sohn des Grafen Edgar. Gloucester, Berater des Königs, fällt auf die Intrige rein, verstößt seinen Sohn Edgar und erklärt ihn für vogelfrei. Edgar entledigt sich seiner Kleidung, um wenigstens als wahnsinniger Bettler Tom of Bedlam im Land weiterleben zu können.
König Lear wird aus dem Schloss geworfen und irrt, inzwischen halb wahnsinnig, mit einem Narren und Kent bei Unwetter in der Heide umher. Gloucester will ihm helfen, wird aber von Edmund an Goneril und Regan verraten und bestraft. Nun beginnt es blutig zu werden. Goneril schlägt Gloucester mit dem Absatz ihres Schuhs die Augäpfel aus. Gloucester macht sich blind auf den Weg nach Dover, weil dort ein französisches Heer unter der Führung von Corderia erwartet wird. Unterwegs trifft er seinen Sohn Edgar, der sich aber nicht zu erkennen gibt.
Edmund hat inzwischen mit Goneril und Regen gleichzeitig angebandelt und macht beiden schöne Augen. Die Schwestern werden zu Rivalinnen im Kampf um die Gunst des Grafen und vergessen darüber den gemeinsamen Feind, die Franzosen mit ihrer Schwester Corderia an der Spitze. Schließlich kommt es zur Schlacht, in der „die Bösen“ alle zu Tode kommen, aber auch Corderia. Die Gerechten überleben, haben aber nichts davon.
In Katrin Beiers Inszenierung sorgt ein starkes Ensemble für einen großartigen Theaterabend. Goneril (Carlo Ljubeck) und Regan (Samuel Weiss) werden von Männern gespielt, wie zu Shakespeares Zeiten, als die Frauen in England nicht auf die Bühne durften. Manchmal wird das aber doch zu Charlies Tante. Lina Beckmann ist als Cordelia etwas blass, was an der Figur liegt, als Narr famos und immer präsent, auch wenn sie gerade keinen Text hat und im Hintergrund steht. Für Kontrast zu den männlichen Frauen sorgt Sandra Gerling als weiblicher Mann. Sie gibt dem Edmund viel Schwärze und Kälte. In den Liebesszenen heben die Frau als Mann und die Männer als Frauen die Gendergrenzen auf. Chef in der Box ist Edgar Selge als King Lear. Starke Präsens zeigt auch Fabian Krüger als verstoßener Sohn Edgar. Er springt in seiner schwierigen Rolle die meiste Zeit nackt auf der Bühne herum, eingekalkt, an diesem Abend für Jan-Peter Kampwirth eingesprungen, aber überaus rollensicher. Auf dem Weg in den Wahnsinn folgt ihm Edgar Selge zum Ende hin in gleicher Aufmachung nach. Den Darstellern wird wahrlich alles abverlangt, den beiden auch die Kleidung. Dem einst mächtigen König (und Vater) bleibt zum Ende von seiner einstigen Macht und Größe nichts, als das bloße und nackte Menschsein.
Gelegentlich sorgen helle Scheinwerfer vor der Bühne für hohe Schattenwürfe der Figuren an die Wände und damit für Expressionismus. Auch die starke Livemusik, mit Akiko Kasai am Klavier
schafft filmreife Atmosphäre. Die Musikerin holt bisweilen auch reichlich untypische Klänge und Geräusche aus ihrem Instrument und vertont alleine die ganze große Schlacht am Ende des Dramas.
Der alte Shakespearetext kam modernisiert und ein paar Figuren wurden auch eingespart. So waren es kurzweilige drei Theaterstunden.
König Lear, Schauspielhaus
Regie: Karin Beier
Bühne und Kostüme: Johannes Schütz
Kostümmitarbeit: Astrid Klein
Musik Jörg Gollasch
Licht: Annette ter Meulen
Ton: Shorty Gerriets, Lukas Koopmann
Dramaturgie: Christian Tschirner
Choreographische Mitarbeit:
Valenti Rocamora i Tora
Artistik Trainer: Jevgenij Sitochin
Darsteller: Lina Beckmann, Sandra Gerling, Fabian Krüger(für
Jan-Peter Kampwirth, Matti Krause, Carlo Ljubek, Maximilian Scheidt, Edgar
Selge, Ernst Stötzner, Samuel Weiss
Musikerinnen: Yuko Suzuki, Akiko Kasai
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